ALICE MUSIOL

 

„Kunst ist die Sprache, in der ich mich einfach gewandter ausdrücken kann..."

„Die Kunst ist als Reaktion auf innere und äußere Umstände immer schon ein Teil meines Lebens", sagt Alice Musiol, „Das Leben selbst gibt sozusagen mein Arbeitskonzept vor."

 

Alice Musiol empfindet sich seit ihrer Kindheit als eine Reisende. Sie war zehn Jahre alt, als ihre Familie von Polen nach Deutschland übersiedelte. „Meine Eltern strebten nach Freiheit."

Schon als Kind hat sie erfahren, was es bedeutet, fremd zu sein, nicht integriert zu sein - wieder wegzugehen, wieder neu anzufangen. Davon handeln auch ihre Arbeiten: immer wieder Ballast, aber auch Geborgenheit hinter sich zu lassen, immer wieder um die eigene Identität und ein eigenes Zuhause zu kämpfen.

Ihr Werk unterliegt daher konsequent einem gemeinsamen übergeordneten Konzept: Ihre Arbeiten selbst sollen keinen Ballast darstellen, sie müssen transportabel sein. Sie sind daher immer entweder kleinformatig, zerlegbar, faltbar, oder jederzeit reproduzierbar.

Daraus folgt die spezielle Auswahl ihrer Werkstoffe. Sie müssen leicht und flexibel sein, wie Papier, Stoff und Wolle, oder überall erhältlich, wie zum Beispiel Brot aus dem Super¬markt, Materialien aus dem Baumarkt, Videos.

Einige Installationen bestehen aus Haushaltsgegenständen, die Alice Musiol unter Umständen sogar selbst später weiter benutzt. Sie können also jederzeit von einem Nutzgegenstand in „Kunst", und von „Kunst" in einen Nutzgegenstand zurückverwandelt werden. Sie sind ohne besonderen materiellen Wert an sich. „Dieses Konzept habe ich entwickelt, weil ich seit meiner Kindheit ständig umgezogen bin und mich auf Dauer insgesamt von sperrigen und schweren Gegenständen getrennt habe."

Kunst ist für Alice Musiol kein nie erreichbares Ideal, dem man verzweifelt nachstrebt. Sie empfindet Kunst „wie ein Lied, das jeder Mensch singen kann".

Ihre Familie entschied sich für eine Reise aus dem Sozialismus in die Demokratie. Ihr Antrieb war die Sehnsucht nach der Freiheit des Denkens und Handelns, nach Entwicklungsmöglichkeiten. Doch ihre Reise war auch eine Reise vom Sozialismus in den Materialismus - in ein Denken in Besitzständen, das einige Menschen gleicher macht als andere, Besitz zur sozialen Qualität erklärt.

Es ist die Grundüberzeugung demokratischer Freiheitlichkeit, auch der Freiheit von „Haben", der Alice Musiol in der Tradition ihrer Familie in ihren Arbeiten konzeptionell und praktisch immer wieder ihre Treue erklärt.

Die Arbeiten der Künstlerin sind daher immer politisch, sozialpolitisch und persönlich zugleich. Sie haben viel mehr mit ihrer praktischen Lebenserfahrung zu tun, als mit unüberprüfbarer Theorie. Das gewählte Thema wird einem Medium unterworfen, sozusagen „abgeklopft", um es realisieren zu können. „Ich passe eine Idee meinen Möglichkeiten an, um flexibel zu sein und zu bleiben."

Alice Musiols Themen sind dabei existentiell, unabhängig von der gewählten Art und Weise der künstlerischen Umsetzung. Zeichnungen dienen ihr als Skizzen, ausgefeilte Notizen oder Gedankenquellen, die später in modifizierter Form - als Installation oder als Objekt - in eine dritte Dimension gebracht werden können.

Die dreidimensionalen Arbeiten zeichnen sich durch beeindruckenden Fleiß und Akkuratesse aus. Fast meditativ wird für die Arbeit „Ghetto, 2008" - ein wulstiges, ineinander verwobenes Gebilde aus Stoff - Form an Form gesetzt, jede für sich einzigartig, perfekt vernäht und ausgestopft. Die Arbeit symbolisiert den solidarischen Zusammenschluss einer Gruppe von Menschen in einem bestimmten Gefüge, es geht um etwas Kollektives, ganz anders als in der konterkarierenden Arbeit „Herz, 2009", einem kleineren Wandobjekt, das seinen Fokus auf das „Ich in sich selbst" legt.

Alice Musiol weiß zu jeder Zeit, dass ihre akribische Arbeit an den Installationen nicht von Dauer ist. Aber ihre Anstrengung und Vertiefung in eine Arbeit zu übertragen - „wie in ein Mandala vielleicht, und so eine Erinnerung zu evozieren" - ist ihr eigentliches Ziel.

„Es ist für mich wichtiger, eine Spur mit einer Geste zu hinterlassen, als mit einem gewichtigen Gegenstand. Darin liegt für mich die größte Freiheit in der Kunst, und im Leben..."

(Text: Alice Musiol / Marianne Harms-Nicolai im Frühling 2009)