Manche Künstlerinnen oder Künstler würde das Attribut „bescheiden" fast schon diskreditieren. Bei Inge Schmidt steht es dagegen für eine hohe ästhetische Qualität, einen sehr raren Verzicht auf jede skulpturale Rhetorik, auf große Worte wie Gesten - eine Konzentration auf das, was gerne „wesentlich" genannt wird: die Beschränkung auf Mittel und Wege, die ebenso essentiell wie unverzichtbar sind für ein „plastisches Stück".
Diese Skulpturen in Worte zu fassen, ist nicht einfach, denn sie sind alles andere als einfach. Sie strahlen Einfachheit aus: nicht als Armut, sondern als verdichteten Ausdruck, von dem nichts ablenkt und dem nichts abgeht. Wenn Rilke preist: „Die Armut ist ein großer Glanz von innen", so nimmt Inge Schmidt dem die leise Ironie, die im Stundenbuch mitschwingt, und macht das im Material anschaulich. Reine Beschreibung trifft diese Verbindung von Zurückhaltung und Selbstbewusstsein nicht einmal am Rand. Die Meisterschülerin von Michael Croissant besetzt mit ihren Stücken eine Zone zwischen Aura und Alltäglichkeit, die sich der Definition, nicht aber der Empathie entzieht.
Inge Schmidt verwendet „arme" sie selber sagt „nichtige" Materialien. Sie besitzen kaum Wert und lassen gerade deshalb ein freieres Arbeiten zu. Die Künstlerin sieht darin einen großen Vorteil. Dünne Bauhölzer, Karton, Wellpappen, Leim, Klebeband, Schnur, Draht haben durchweg etwas Behelfsmäßiges, Improvisatorisches - und reichen für die franziskanische Demut der Stücke doch vollkommen aus. Zwei, drei Materialien werden auf ihren knappsten Nenner zusammengebracht. In einer naheliegenden Handlangung - warum nicht sagen: in der Nähe kindlicher Bastelei? - werden Hölzer mit Schnur gebündelt oder in Wellpappe gerollt. Sie werden aufgerichtet, überkreuz gestellt, mit staksigen Gesten abgewinkelt oder asymmetrisch an Klötzchen geleimt oder genagelt. Schnur und Draht dienen der Aufhängung, die Gewichte auspendelt und das Stück der natürlichen Gravitation einfügt. Wellpappe wird gerollt oder zerschnitten. Sie wird geschichtet und mit dem löchrigen Rapport ihres Innenlebens nach außen gekehrt. Anderswo werden Ringel aus Wellpappe über Hölzer geschoben, wo sie ein mobiles Eigenleben führen. Selbst die - man zögert, das Wort in den Mund zu nehmen - selbst die reicheren Stücke gehen auf ganz simple Handlungen zurück: Schichten, Anpassen, Nebeneinander setzen, Einrollen, Verknoten, Nageln... . nur Notwendiges, ohne jeden dekorativen Überhang. Ich kenne kaum eine Künstlerin, die diesen Anspruch derart unprätentios einlöst.
Dennoch siedeln alle Arbeiten in einer natürlich ausgeleuchteten Grauzone zwischen Bricollage und skulpturaler Akrobatik, Banalität und Gleichnis. Man kann darin fragile Einsprüche gegen Perfektion, subversive Gesten gegen glatte Funktionalität, laute Monumentalität und triefendes Pathos sehen. Man kann das Brüchige, Verletzliche betonen - und die Poesie der Zerbrechlichkeit. Von hier zur Metapher und zum Menschlichen ist dann nur ein kleiner Schritt. Ob Inge Schmidt ihn akzeptiert, weiß ich nicht. Man kann aber auch die umgekehrte Qualität in den Vordergrund rücken. So labil und vorläufig die Befestigungen, Verschnürungen, Aufhängungen auch sind - sie halten fest, halten zusammen, stimmen in der Balance. Die Büroklammer mag ein Muster der Improvisation abgeben - aber sie ist eine hilfreiche Erfindung im Übergang vom Chaos zur endgültigen Ordnung. Eine für Inge Schmidt bezeichnende Handlung ist das Verbinden von Bruchstellen - nicht nur, um zusammenzufügen, sondern um zu heilen. Gelenkstellen erscheinen wie Wunden abgeklebt und umschlungen. Wellpappen bandagieren Bäume oder schienen dünnes Holz. Das Schützende, Be-schützende ist eine Grundhaltung, die Inge Schmidts Hinwendung zum Fragilen, Brüchigen des Materials immer wieder ergänzt.
Das alles gehört zu ihrer Ästhetik, die Konstruktion und De-Konstruktion in ein behutsames Gleichgewicht bringt. Was sich durchzieht, ist der Verzicht auf Schwere und körperliche Massivität. Nur,
wo Gewichte der natürlichen Gravitation folgen, stehen auch geballte Massen, eine hängende Kuppel zum Beispiel, im Einklang mit sich selber und den Gesetzen der Physik. Nur dann gewinnen sie bei Inge
Schmidt ihre innere Notwendigkeit.
Allen Skulpturen eignet sich so eine wunderbare Leichtigkeit. Das helle Grau der Pappen, das Hellocker der Hölzer, das sparsame Weiß der Bemalung trägt und verstärkt diese luftige Offenheit noch.
Etwas Schwebendes, Flüchtiges, schmal Aufragendes, aber auch Sicheres, ineinander/aneinander Gepasstes, recht- wie spitzwinklig Fixiertes liegt so über der Ausstellung - von der frühesten Arbeit,
einer Astspitze, bis zu den staksig gebündelten vertikalen Stäben.
Seit den 90er Jahren verstärkt Inge Schmidt das locker Konstruktive. Aufgestellte oder im Schritt gespreizte dünne Vierkantstäbe ragen senkrecht hoch oder knicken schräg ab. Sie stehen schmal gebündelt, in Spiralen nach oben gedreht oder überkreuz. Die Endgültigkeit des Tektonischen wird durch Schrägen, Kurven, herabhängende Gewichte, prekäre Asymmetrien, kurz, eine verwackelte Stabilität unterlaufen. Die Senkrechten stammen nicht vom Richtblei ab, sondern von Schachtelhalmen oder Rispen. Die Waagerechten fundamentieren nicht, sondern dienen als (optische?) Kontergewichte. Schrägen verstreben und verklammern nicht. Sie bleiben Neigungen, die Zuneigungen sind. Auch die jüngeren Arbeiten bewahren so etwas Federndes, Wiegendes, Aus-Wiegendes. Sie erstarren nicht in ihrer Vertikalität.
Diese „plastischen Stücke" führen ihr eigenes, prekäres Leben. Sie wirken zwar staksig-gestisch, aber unser eigenes Körpergefühl verweigert sich ihrer leichtgliedrigen Materialität. Jedes Stück hat, wichtig für die Croissant-Schülerin, seinen „eigenen Stand", mit dem wir selber - schwergliedrig und massiv - nicht kompatibel sind. Jedes bleibt eine Persönlichkeit eigener Art und bewahrt doch die Distanz und fremde Würde eines Objektes. Einzelne signalisieren Rest-Funktionen - Tisch, Stuhl, Regal - um sich gleich wieder ins Nutz- und Zwecklose zu kehren. Erstaunlicherweise wirkt das nicht unentschieden. Im Gegenteil - als Skulpturen sind die Stücke in ihrem subtilen Spiel zwischen stabilen und labilen, gefestigten und fragilen, zwecknahen und autonomen Elementen von einprägsamer Entschiedenheit.
Ich darf ein paar Sätze zu den Zeichnungen sagen. Sie sind so vielfältig, wie die „plastischen Stücke" vielfältig sind. Bleistift, Farbstift, Kreide, Tuschfeder, Aquarell - sämtliche gängigen
Techniken. Die Blätter reichen von Strichimpulsen, die sich in kurze, richtungsreiche Energiestöße über das Papier verwandeln, bis zu gelassen aufsteigenden, gestrichelten Umrissfiguren. Von einem -
ausnahmsweise - virtuos gezeichneten Papierstapel, der sich nach vorne verkantet, bis zu vehement lavierten Aquarellen. Neuerdings rückt Inge Schmidt vor allem die Energetik ihrer Strichführung nach
vorne, während sie früher mit Ironie und skurrilem Witz Linienfiguren umriss. Im Eingang findet man einen solchen Vogelmenschen mit Feder-Cape. Vorbilder für diese Blättchen kenne ich kaum - es sei
denn, in Paul Klees „Pädagogischem Skizzenbuch". Sie sehen: Ich bringe hohe Maßstäbe ein.
Das zeichnerische Werk wartet noch weitgehend darauf, entdeckt zu werden.
Ein Kollege hat in einem Interview versucht, Inge Schmidt auf Begriffe festzunageln. Es ist ihm - Gottseidank - nicht gelungen. Weder auf die Polarität gegenständlich/ungegenständlich noch auf ein
„dualistisches Prinzip", weder auf bestimmte Themen noch auf eine „bestimmte künstlerische Theorie", weder auf gesellschaftliche Anliegen noch auf ein artistisches Programm. Das Alles findet man in
der Ausstellung also nicht. Dagegen schnörkellos Inge Schmidt: „Die eigene künstlerische Wahrheit ist mir wichtig."
(Prof. Manfred Schneckenburger)